Bewertung des OVG-Beschlusses für einen NEL-"Baustopp"
Was bedeutet der Beschluss für NEL-Betroffene und andere ?
Von: @VB <2011-07-02>
In hoffentlich für juristische Laien verständlicher Form werden der Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichtes (OVG, Lüneburg, Az.: 7 MS 73/11) vom 30. Juni 2011 analysiert und einzelne Aspekte sowie Aussichten diskutiert.

Wichtige Hinweise:

  • Die nachfolgende Zusammenstellung/Zusammenfassung erfolgt durch einen juristischen Laien und kann keine Beratung durch einen Rechtsanwalt oder andere sachkundige Personen ersetzen. Sie soll lediglich die komplexe Sachlage bei der Errichtung potentiell gefährlicher Großanlagen im allgemeinen und der NEL -Trassierung durch Niedersachsen im speziellen reflektieren und zum Nachdenken anregen.

  • Die nachfolgenden Texte werden vermutlich auch Fehler enthalten und vielleicht zu Mißverständnissen führen. Sollte Ihnen ein Fehler auffallen oder sollten Sie mißverständliche oder unverständliche Passagen finden, benachrichtigen Sie bitte unverzüglich die Redaktion (Kontaktmöglichkeit u.a. ganz unten auf der Seite)

  • Soweit sinnvoll, soll dieser Text auch durch weitere Fragestellungen und Antworten dazu ergänzt werden.

  • => Bitte schicken Sie Ihre Frage/Anregung an die Redaktion.


Warum wurde von den Klägern ein "Baustopp" angestrebt?

Die von der zuständigen Behörde (LBEG) genehmigte Planung der NEL durch Niedersachsen beinhaltet die (gesetzlich so geregelte) Erlaubnis "sofort die Bagger rollen zu lassen". Dieser Sofortvollzug führt jedoch zu "vollendeten Tatsachen", die teilweise nur schwer bis (nach Meinung Betroffener) überhaupt nicht korrigierbar sind.

So befürchten Kläger irreparable Schäden durch die Bauarbeiten und eine nicht hinnehmbare Gefährdung durch eine Inbetriebnahme der Gasleitung noch vor einem Urteil im Hauptverfahren. Auch befürchten die Kläger eine Beeinflussung der gerichtlichen Entscheidung durch "vollendete Tatsachen", wenn erstmal viele Millionen verbuddelt wurden.

Dass Schäden entstehen können, die irreparabel sind und nicht wirklich durch entsprechende Schadenersatzzahlungen ausgeglichen werden können bzw. unverhältnismäßig hoch sind, wird allerdings vom OVG derzeit noch nicht erkannt.

Die Vorhabensträger möchten naturgemäß ihr Vorhaben fristgerecht realisieren, um dann damit Geld bald verdienen zu können. Ein "Baustopp" ist da höchst störend - und teuer bis sehr teuer.

"Freiwillig" hatte die Vorhabensträger darauf verzichtet, im umstrittenen Abschnitt mit den Bauarbeiten vor dem 1. Juli 2011 zu beginnen. (Da die Vorhabensträger bereits seit mehreren Jahren wiederholt und nachdrücklich auf eine zu erwartende gerichtliche Überprüfung und sogar genau auf die jetzt vom Gericht bestätigten Knackpunkte [Sicherheitsabstand + Alternativtrasse] hingewiesen wurden, gab es genug Zeit, dieses einzukalkulieren ... ;-). Das Gericht hatte sich nach eigenen Aussagen gut vorbereitet und war anscheinend motiviert, das Eilverfahren zügig durchzuziehen um seinen Beschluss vor diesem Termin herauszugeben. Die schwerwiegenden Verfahrensfehler haben dieses vermutlich auch etwas einfacher gemacht.

Der erlassene "Baustopp" wird vermutlich sehr weitreichende Konsequenzen haben.
  => Auch für Sie persönlich ?
  1. Für jene, die gegen den Planfeststellungsbeschluss zur NEL Niedersachsen klagen:

    Der Beschluss prognostiziert, dass es gute Aussicht auf einen Erfolg der Klage (im Hauptverfahren) bezüglich Sicherheitsaspekten und Alternativtrassen gibt.

    Probleme, die für den "gesunden Menschenverstand" völlig klar waren, wurden hier endlich auch ein mal von einem Gericht und seltener Deutlichkeit benannt und (dank der Hilfe des Rechtsanwaltes der Betroffenen) auf die Rechtslage abgebildet!
    Auf die entsprechenden seit Jahren sehr nachdrücklich und wiederholt vorgetragenen Bedenken der Betroffenen haben leider weder Vorhabensträger noch Genehmigungsbehörde adäquat reagiert. Jetzt bleibt ihnen aber nichts anderes übrig, als die Probleme ernst zu nehmen!

  2. Für alle (weiteren) Eigentümer, deren Grundeigentum durch einen Bau der NEL betroffen ist:

    All denjenigen, die nicht geklagt haben und als betroffene Grundeigentümer noch keinen Gestattungsvertrag unterschrieben haben, können ebenfalls vom "Baustopp" profitieren:

    Wer sich von Enteignung / Besitzeinweisung bedroht fühlt, kann sich erstmal entspannt zurücklehnen. Für Enteignungen und Besitzeinweisungen ist nämlich nicht nur ein unanfechtbarer Planfeststellungsbeschluss notwendig, sondern auch, dass das Vorhaben "alsbald realisiert" werden kann. Letzteres ist aufgrund des nun ergangenen Baustopps für den betroffenen Abschnitt aber nicht möglich.

    Daher müssen von den Betroffenen derzeit keine Besitzeinweisungen geduldet werden. Es besteht jetzt also noch weniger Grund zum (vor)eiligen Abschluss von Gestattungsverträgen!

  3. Für alle Menschen, die in der Nähe einer geplanten großen Gasleitung (oder anderen potentiell gefährlichen Großanlagen) leben - aber auch Projektplaner und Genehmigungsbehörden:

    Wenn die Argumentation (der Kläger und) des OVG im Hauptverfahren bestand hat, gelten wichtige neue Maßstäbe für die Berücksichtigung von Risiken bei der Einrichtung und dem Betrieb technischer Großanlagen - insbesondere bei Gasleitungen.

    Der "gesunde Menschenverstand" sagt es zwar schon lange, doch nun hat (erneut) ein Obergericht sehr deutlich gemacht, dass die Gefährdung von Leib und Leben Betroffener ein ganz wichtiges Entscheidungskriterium ist und z. B. nicht einfach "weggewogen" (also als das kleinere Übel gegenüber z. B. höheren Kosten angesehen) werden kann.

    Auch einer unangebrachten Verwendung des Begriffs "Restrisiko" tritt das Gericht energisch entgegen. Im Fall dieser Auseinandersetzung seien verbleibende - aber wegen z. B. Alternativtrassen eben nicht wirklich unvermeidbare - Risiken nicht einfach mit dem Hinweis auf "Restrisiko" vom Tisch zu wischen. Eine schallende Ohrfeige für die Planfeststellungsbehörde - auch wenn sie zugegebenermaßen in diesem Fall ähnlich agiert hat, wie bisher leider weit verbreitet! Lediglich sehr energischer Widerstand, engagierte und erfahrene Beteiligte haben den Zwischenerfolg möglich gemacht. Zugegeben: Hilfreich waren auch von den engagierten Betroffenen unbeeinflusste Umstände.

    Nach dem "Datteln-Baustopp" und anderen neueren Verfahren ist die Sicherheit der Anwohner zukünftig von Planern und Genehmigungsbehörden deutlich ernster zu nehmen. Denn materielle ("Vermögens"-) Schäden können notfalls finanziell ausgeglichen werden - Gefahren für Leib und Leben haben dagegen eine ganz andere Qualität !

Nunmehr liegt ein Beschluss im Eilverfahren vor, der einen "Baustopp" beinhaltet.
  => Mit welchem Ergebnis ist im "Hauptverfahren" zu rechnen?

Der nun ergangene VG-Beschluss stellt eine Art Prognose dar, mit welchem Ergebnis/Klageerfolg im "Hauptverfahren" zu rechnen sein könnte.

Bisher wurden lediglich "im Schnellgang" die vermutlich relevantesten Aspekte betrachtet und bewertet. Daher kann sich im eigentlichen Prozess (dem Hauptverfahren) nach genauerer Analyse der verschiedenen Argumente Aspekte und durch das Gericht durchaus die eine oder andere Bewertung noch ändern.

Das OVG hat jedoch bereits in seinem bisherigen Schnelldurchgang derart viele Mängel festgestellt, dass ganz massiv nachgebessert werden müsste, damit ein zwischenzeitlich modifizierter Planfeststellungsbeschluss dann im Hauptverfahren Bestand haben könnte!

Der Autor hat große Zweifel, dass es überhaupt möglich sein wird, ohne ein neues Planfeststellungsverfahren für zumindest größere Teile der NEL-Trasse einen Plan zu erstellen, der Bestand haben kann.

Was wurde hauptsächlich vom OVG beanstandet?

Einige Fragestellungen wurden vom OVG explizit in das Hauptverfahren verschoben, weil ihre Klärung recht aufwändig zu werden scheint. Andere Punkte waren jedoch bereits so eindeutig, dass das OVG den "Baustopp" aussprechen konnte, weil es sich ausreichend sicher ist, dass der erlassene Planfeststellungsbeschluss im Hauptverfahren "einkassiert" werden wird.

Die eingereichte Klage richtet sich gegen den Planfeststellungsbeschluss der Genehmigungsbehörde (also das LBEG). Die Vorhabensträger (also WINGAS, E.ON und Gasunie) sind aber als "Beigeladene" am Verfahren maßgeblich beteiligt.

Das OVG kritisiert hauptsächlich folgendes:

1. Sicherheitsstandards und fehlerhafte Abwägung der Sicherheitsrisiken:

Diese Thematik wurde von der Genehmigungsbehörde sehr stark eingegrenzt. Es wurde von ihr im Wesentlichen lediglich festgestellt, dass die zu verlegende Erdgasleitung im Prinzip in sich sicher sei und dass es ausreicht, wenn Bauwerke, Wege, Bäume etc. einen Sicherheitsabstand von 5 Metern zur Mittelachse der gut 1,4 m dicken Röhre einhalten. Über den konkreten (Mindest-)Abstand der Pipeline zur Wohnbebauung gäbe es keine Angaben/Auflagen in den Regelwerken. Zur Sicherheit der Anwohner gäbe es daher auch nichts weiter zu beachten. Eventuell doch noch von der Pipeline ausgehende Gefahren müssten von den Anwohnern als "Restrisiko" eben hingenommen werden.

Das OVG hält die Verwendung des aus dem Atomrecht stammenden Begriffs "Restrisiko" für den Bau von Gasleitungen jedoch nicht für anwendbar. Er habe eine ganz andere Bedeutung, wie die vom LBEG implizierte. Die alleinige Be(tr)achtung der technischen Regelwerke wäre ebenfalls nicht ausreichend. Es kritisiert die offenkundig bestehende Regelungslücke für Sicherheitsabstände und weist darauf hin, dass dann eben übergeordnete Regelungen (Gesetze) zur Bewertung/Entscheidung hätten herangezogen werden müssen. Dieses wäre fehlerhafter Weise jedoch nicht erfolgt.

In einem Fachaufsatz wurden konkrete Auswertungen zur Gefährdung durch Gasleitungen dargestellt und eine besonders große Gefährdung in einem Umkreis von ca. 350 Metern ermittelt. Aber auch darüber hinaus gibt es durchaus noch ein Gefahrenpotential. Dieses nimmt das OVG Lüneburg (wie zuvor auch schon das VG Stuttgart) zum Anlass, die 350 Meter als Abstands-Richtwert zu nehmen. Erdgasleitungen sollten also möglichst mindestens 350 Meter Abstand zur Wohnbebauung halten (in Stöckte sind bzw. "waren" bei der NEL-Planung in einem Fall nur 10 Meter in anderen Fällen 20 bis 30 Meter oder nur wenig mehr vorgesehen!).

2. Fehler bei der Alternativenprüfung:

Zur beantragten Trasse mitten durch Stöckte und allzu nahe entlang der Wohnbebauung (bzw. Schule/Kindergarten) in Ashausen sowie anderer kritischer Stellen in diesem Bereich gibt es durchaus eine Alternative. Während des Raumordnungsverfahrens tauchte sie aus der Schublade der Vorhabensträger auf und wurde noch nachträglich ins Verfahren aufgenommen. Zwei Trassenvarianten wurden als "raumverträglich" bezeichnet. Rechtsmittel gegen das Ergebnis des Raumordnungsverfahrens waren aber formal nicht möglich. Die Klärung ist erst in diesem Rechtsstreit durchführbar.

Vom OVG wird massiv kritisiert, dass die Betrachtung der Alternativen durch das LBEG nicht ausreichend war. Zwar haben Kläger (und Gerichte) nur verhältnismäßig wenig Einflussmöglichkeit auf eine Alternativen-Auswahl und können nur bei groben Abwägungsmängeln Erfolg haben, doch sei das LBEG der irrigen Auffassung, dass es seinerseits ebenfalls nur wenig Spielraum in der Frage der Alternativen-Auswahl habe. Es sei im Gegenteil sogar dazu verpflichtet, nötigenfalls ergänzend zu den von Vorhabensträgern vorgelegten Alternativen eigene Alternativvorschläge zu entwickeln. Dieses gelte im Fall der hier vorliegenden massiven Sicherheitsbedenken ganz besonders.

Warum wurden die Forderungen einiger Kläger nach einem Baustopp zurückgewiesen?

Bisher ging es lediglich um das Eilverfahren / den "Baustopp". Nach Ansicht des Gerichtes sind hier praktisch nur die Fragen der Sicherheit entscheidungsrelevant. Eventuell entstehende "Vermögensschäden" der Klagenden wären nicht entscheidend, weil die Vorhabensträger eigene materielle Nachteile (z.B. Einnahmeverluste) dagegen halten können.

Würde die Genehmigung zum Bau der NEL im Hauptverfahren für ungültig erklärt werden, könnten die materiellen Schäden finanziell ausgeglichen werden. (Wenn die Leitung in die Luft fliegt, bevor das endgültige Urteil gesprochen ist, hat das für die Betroffenen demgegenüber eine ganz andere, nicht kompensierbare Qualität !)

All diejenigen, die also nicht wirklich persönlich in Leib und Leben bedroht sind, haben also nach Meinung des OVG keine ausreichende Begründung für einen Baustopp - insbesondere auch, weil das OVG (derzeit noch) davon ausgeht, dass das NEL-Projekt für das Wohl der Allgemeinheit wichtig sei. (Sehr irriger Weise, wie der Autor und andere Betroffene angesichts der derzeitigen Bedarfslage, des Klimawandels und der verschärft entstehenden hochkritischen politischen Abhängigkeiten meinen!)

Die Klagen einiger Betroffener wurden (vermutlich dem Zeitdruck geschuldet) vom Gericht mit Annahmen abgewiesen, die der Realität (und/oder den Inhalten des zugegeben riesigen Aktenberges) allzu sehr widersprechen bzw. mit geringem Aufwand zu klären gewesen wären. Leider gab es auch keine mündliche Verhandung, in der die Wissenslücken bzw. Fehlinterpretationen der Richter hätten geklärt werden können. Eine sorgfältigere Überprüfung der Fakten und Akten hätte nach Meinung des Autors zu einer anderen Bewertung und damit zu einem Erfolg auch für weitere Kläger führen müssen.

Diejenigen, deren persönlicher Forderung nach einem Baustopp vom Gericht zurückgewiesen wurden, sollten jedoch nicht allzu traurig sein: Der Baustopp wurde auch so und meist auch für sie erreicht - wobei die Kosten sich hoffentlich in überschaubaren Grenzen halten werden, weil es beim vorgeschalteten Eilverfahren ja nur um den eher kleinen Teil des gesamten Klageverfahrens geht.

Wichtig war und ist es auf jeden Fall, dass durch die große Beteiligung an der Sammelklage die Basis für eine - wie sich nun zeigt - "erfolgreiche" Rechtsvertretung gelegt wurde und die Klage bis zum "endgültigen" Erfolg durchgezogen wird.

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